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Geboren wurde ich in der Kleinstadt Somerville in der Nähe von Boston, wo amerikanische Geschichte auf Schritt und Tritt präsent ist. Meine Mutter und mein Vater waren Kinder mittelloser italienischer Einwanderer, die davon träumten, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein neues Leben für sich und ihre Kinder aufzubauen. Sie schauten immer nur nach vorne, vergaßen aber nie, woher sie kamen, und gaben ihre italienische Kultur nicht auf. Sie nahmen jedoch, soweit sie konnten, mit großer Entschlossenheit, Aufopferung und harter Arbeit ihr neues Heimatland an. Am Anfang hatten sie es nicht leicht. Jahrelang lebten sie im Norden von Boston, in „Klein-Italien“, in Armut. Sie gaben nicht auf. Rückschläge erhöhten nur ihre Hartnäckigkeit. Sie kämpften sich durch und hatten schließlich mehr Erfolg, als sie jemals erwartet hatten.

Allen Schwierigkeiten zum Trotz gelang es ihnen, ihren Sinn für bildende Kunst und Theater beizubehalten und an meine Eltern weiterzugeben. Es ist erstaunlich, was sie alles über das Thema wussten, obwohl sie aus ärmlichen und letztlich bildungsfernen Verhältnissen kamen. Ich erinnere mich genau, wie ich praktisch jede Woche am Radio klassische Musik, z. B. von der Metropolitan Opera und der sogenannten „Voice of Firestone“ hörte oder meine Eltern und ich zusammen vor dem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher unserer Familie saßen und klassische Theatervorstellungen sahen oder wie man uns Kinder im Sonntagsstaat in eines der berühmten Bostoner Museen mitnahm, wir ein Konzert des Bostoner Symphonieorchesters hörten oder eine Matinée-Vorstellung in einem Repertoire-Theater besuchten.  Was für ein Glück, dass meine Großeltern sich in Boston niederließen und ihre Kinder dort aufzogen, wo in Amerika Geschichte und Kultur zu Hause sind. Dafür bin ich mein Leben lang dankbar.



Es sollte insofern nicht überraschen, dass die bildende Kunst und das Theater auch in meinem Leben eine bedeutende Rolle spielten. Dennoch wollte ich bis vor einigen Jahren nicht mehr sein als Kunstsammler. Ich kam nicht auf die Idee, dass ich selbst Kunst produzieren könnte – und die Vorstellung, dass ich mit dem Bleistift ein Kunstwerk schaffen konnte, das jemand kauft, war mir völlig fremd. Es amüsiert mich immer noch, wenn ich mir überlege, dass ich immer schon ein Künstler war. Ich brauchte nur einige Zeit, um es herauszufinden.

Nach vierzig abwechslungsreichen Berufsjahren in der Wirtschaft ging ich in Rente und reiste mit meiner Frau durch die Welt, während sie weiterhin in der Wirtschaft tätig war. Es war eine aufregende und lohnende Zeit in unserem Leben. Nachdem sie nach Okinawa versetzt worden war, schlug sie mir vor, „nur so zum Spaß“ einen Kunstkurs zu machen – sozusagen als Beschäftigungstherapie, während sie mehrere Monate lang an einem anderen Ort ein Projekt betreute.  Obwohl meine einzige Erfahrung in der Produktion von Kunst – sieht man mal vom eifrigen Gebrauch der Buntstifte im Kindergarten ab – im Zeichnen verschiedener Disney-Figuren bestand, die ich als Teenager zur Unterhaltung meiner jüngeren Schwester auf Aktendeckel gekritzelt hatte, dachte ich: „Warum nicht?“ Die Disney-Figuren waren, soweit ich mich erinnerte, gar nicht so schlecht gewesen. Also schrieb ich mich nach einigem Zögern sehr skeptisch und ohne jegliche Erwartungen in einen Kunstkurs an der Volkshochschule ein.

 

Meine Rot-Braun-Farbenblindheit schloss einen Malkurs in Öl- oder Wasserfarben aus. Ich kann mich immer noch erinnern, wie frustrierend es für meinen Vater war, mir „meine Farben“ beizubringen. Insbesondere, da mein Vater im Vor-Computer-Zeitalter als Maler und Restaurateur in der ganzen Gegend für seine Fähigkeit im genauen Mischen von Farben bekannt war. In meinem Fall blieb nur der Anfängerkurs im Bleistiftzeichnen übrig. Es stellte sich heraus, dass dort meine erste und letzte formelle oder anderweitige Kunstausbildung stattfand.

Mein Dozent, der undurchschaubare Herr Yoshida, war ein Mann von unendlicher Geduld und ein hochbegabter Künstler. Ich werde immer dankbar sein für die Art, mit der er mich methodisch an die Grundlagen heranführte. Im Laufe der nächsten Wochen zeichnete ich große Mengen an Alltagsobjekten, bis Herr Yoshida mich nach einer gefühlten Ewigkeit zu echten Leistungen herausforderte. Zu meiner Überraschung erwies ich mich mit Bleistift und Feder als sehr geschickt und vor allem hatte ich meine Bestimmung entdeckt. Dass ich mit einigen Bleistiften, Federn, Blättern Papier und Farbe Kunstwerke erschaffen kann, die eine Zeit, einen Ort oder ein Gefühl festhalten, erstaunt mich immer noch und erscheint mir als Gottesgeschenk.

Zurzeit leben wir in dem kleinen Ort Neunkirchen am Potzberg (Rheinland Pfalz), wo ich meine Zeit mit Zeichnen im Studio, Beiträgen Renovierung unseres zweihundert Jahre alten Bauernhauses und einer Vielzahl weiterer Beschäftigungen verbringe. Ich werde oft gefragt: „Wie kann man als Farbenblinder Bleistift- und Kohlezeichnungen so oft kolorieren?“ Ich nehme dafür keine Hilfe in Anspruch, sondern bin aus der Not heraus erfinderisch geworden. Ich habe einfach irgendwann begriffen, wie ich mein Defizit ausgleichen kann. Ich weiß nicht, wohin die Reise mich noch verschlägt oder wie weit ich noch kommen kann oder wann das Abenteuer zu Ende geht. Bis dahin bin ich der Künstler Jerry Ceglia.

JERRY CEGLIA

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